Wer sich einmal in einem Neubaugebiet oder im öffentlichen Raum umblickt, wird schnell feststellen, dass immer mehr neu gebaute Gebäude im traditionellen Chic erstrahlen. Stetig entdecken Bauherren alte Schnitte und traditionelle Materialien wieder für sich. Wie ist dieser Trend zu erklären?
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Zurück zum Traditionsreichen
Egal, ob im öffentlichen Raum oder privat: Wenn es in der Architektur der 2000er-Jahre einen Trend gibt, dann geht dieser definitiv hin zum traditionellen Baustil. Ein Blick in Neubaugebiete oder mitten ins Zentrum größerer Städte zeigt, dass kein Gebäude dem anderen gleicht. Heterogenität lautet das Zauberwort, denn: Jeder möchte sich mit seinem Bauwerk sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum von anderen abheben.
In den vergangenen Jahrzehnten gab es allgemein einen Trend weg vom Kollektiv hin zum Individuum. Das zeichnet sich auch in der Baukunst ab. Ein kleines, feines Haus im typisch „deutschen“ Stil reiht sich an ein avantgardistisches Heim und nebenan findet sich eine Finca, die besser nach Spanien als in die hiesigen Gefilde passen würde. In den vergangenen 20 Jahren hat sich also einiges getan.
Längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Ziegelfarbe, die maximale Höhe der Dachkante oder der Baustil vorgegeben wurden. Und das ist auch gut so: Wem vorgeschrieben wird, wie er zu bauen hat, dem wird ein Teil der persönlichen Freiheit genommen.
Irgendwie paradox wird es dann jedoch, dass immer mehr Bauherren privater oder öffentlicher Natur den traditionellen Stil vergangener Epochen wieder für sich entdecken. Auch wenn jeder versucht, ein Bauwerk nach seinen persönlichen Präferenzen zu schaffen, ist jedoch eine Tendenz sichtbar. Viele setzen auf alte Werkstoffe, Schnitte und einen traditionellen Look, wenn es darum geht, ein Haus oder ein Gebäude neu bzw. wieder neu zu erschaffen.
München, Dresden, Potsdam und Frankfurt: Retro ist in!
Besonders auffällig ist diese Trendwende bei öffentlichen Gebäuden. Ob in München, in Dresden oder in Potsdam: Viele öffentliche Bauwerke erstrahlen in einem alten Glanz oder werden nach einer Modernisierung wieder auf alt gemacht. Retro ist also wieder in. Das beweist auch das Stadtschloss in Berlin, welches mit seiner barocken Fassade vor mehreren Jahren wieder neu aufgebaut wurde.
Ebenso erstrahlte auch die Frankfurter Altstadt wieder in einem neuen alten Glanz. Insbesondere die Fassaden sind hiervon betroffen – vieles wird darauf ausgelegt, die alte Strahlkraft von Gebäuden wieder herzustellen, quasi eine Rekonstruktion von traditioneller Optik. Doch wieso erfreut sich dies so großer Beliebtheit hierzulande?
Diese Frage kann nicht ohne Weiteres beantwortet werden, gibt es doch viele Motive, die dazu führen, dass Altes wieder eine besondere Bedeutung einnimmt. Ein Beispiel, das sowohl in der Literatur als auch in der Baukunst eine tragende Rolle spielt, ist die Weimarer Klassik bzw. der Klassizismus. Sowohl in der Literatur als auch in der Kunstgeschichte – wobei zu erwähnen gilt, dass beide nicht Hand in Hand gingen – spielte eine Rückbesinnung auf die Antike Klassik eine wichtige Rollen.
Plötzlich waren streng aufgebaute literarische Werke und der klassische Baustil wieder en vogue. Auch bei diesem prominenten Beispiel aus der Geschichte kann nicht erklärt werden, weshalb genau sich der besondere Baustil so großer Beliebtheit erfreute. Eines ist jedoch Klar: Trends sind eine Reaktion auf gesellschaftliche Strömungen.
Können wir aus dem Klassizismus etwas lernen?
Um beim Beispiel des Klassizismus im 18. bzw. 19. Jahrhundert zu bleiben: Die Baukunst ist gekennzeichnet von einer strengen Ästhetik, die bestimmten Formvorstellungen unterliegt. Pompöse Säulen und prächtige Bauwerke, die von einer extremen Symmetrie geprägt sind, sind nur ein Beispiel für den Formenkanon, der sich am griechischen Tempelbau orientierte.
In Deutschland galt Johann Joachim Winkelmann als der Begründer des Klassizismus, der mit seiner Aussage „der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“ den Klassizismus auf den Punkt bringt: Das Höchste war die Nachahmung des traditionellen Stils.
Ein Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu dieser Zeit soll nicht außen vor gelassen werden. So war der deutschsprachige Raum gekennzeichnet von Kleinstaaterei und einer breiten Heterogenität. Es konnte passieren, dass man auf einem Weg von 30 Kilometern mehrere Zollräume und Territorien durchqueren musste.
Nach den napoleonischen Befreiungskriegen machte sich langsam ein Nationalitätsgefühl breit, dem man jedoch aufgrund der Zerrissenheit des deutschen Raumes in viele Einzelstaaten nicht gerecht werden konnte. Das Hambacher Fest und die literarische Epoche der Romantik gelten als Reaktionen auf die Nationalitätsbewegung. Auch der Klassizismus kann als solche wahrgenommen werden: So kontrastiert die Formstrenge der Bauten die zerrütteten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse.
Der zeitgenössische Drang nach Bauten im alten Chic
Kann es also sein, dass gewisse Parallelen zwischen dem Klassizismus und dem neu entfachten Drang nach dem Bauen im Retrostil bestehen? Ist es möglich, dass in unserer heutigen Welt, in der sich das Individuum respektive seine individuellen Präferenzen an erster Stelle sieht, eine Rückbesinnung auf die alten Werte stattfindet – zumindest in der Baukunst? Es ist nicht zu leugnen, dass es gewisse Tendenzen gibt, die die Zeit des Klassizismus ebenso prägten wie unsere heutige Welt, und zwar vor allem die Heterogenität.
War es damals noch die Kleinstaaterei, die eine Heterogenität verkörperte, sind dies heute vielmehr die Individuen selbst, die darauf pochen, einzigartig zu sein. Die Rückbesinnung auf die Vergangenheit korreliert dabei auch immer mit der Suche nach Identität – das könnte eine Erklärung sein, weshalb sich das Bauen im traditionellen Gewand wieder größerer Beliebtheit erfreut.
Das ist jedoch nur ein Versuch, den Retro-Hype in der Baukunst zu erklären. Wer sich in die Geschichte flüchtet, der sucht nicht nur nach Identität, sondern versucht auch der Gegenwart zu entkommen. Auch dies wird von einigen als Erklärung für das neue Aufleben der traditionellen Baukunst angeführt. Wieder kann hier eine Parallele zur Geschichte gezogen werden. Ein Rückzug ins Private fand im Biedermeier statt, um sich vor der unsteten Gegenwart zu schützen.
Eine Zuflucht in die verblichene bzw. wieder neu aufgebaute Schönheit vergangener Tage zeigt sich ebenfalls als zeitweiser Ausweg aus der heutigen Gesellschaft. Auch dies wäre eine Erklärung für die Beliebtheit längst vergangener Zeiten und der spezifischen Baukunst.
Rückbesinnung auf die Vergangenheit: Gegenpol zur Digitalisierung
Wenn sich in der Baukunst eine Rückbesinnung auf Traditionen ergibt, ist das keineswegs nur kleingeistig oder gar als Flucht vor der Realität zu sehen. Es muss auch unterstrichen werden, dass traditionelle Gebäude, ihre herrlichen Fassaden und alte Werkstoffe sich über mehrere Jahre, wenn nicht sogar Jahrhunderte gehalten haben. Wird die Schönheit der Häuser und Bauten sowie der Materialien wiederentdeckt, ist das nicht nur eine Rückbesinnung, sondern sogar eine Hommage an die Tradition.
Überall in unseren Städten prägt die Moderne das Bild. Sogenannte Beacons sind der Anfang des Internets der Dinge – die Innenstädte sind vernetzt. Ein altertümliches Gebäude oder zumindest eins, das auf altertümlich gemacht wurde, stellt einen gewissen Gegenpol zur immer intensiver werdenden Digitalisierung dar.
Auch wenn mit der Moderne viele bahnbrechende Neuerungen einhergingen (Stichwort: Energiehäuser, Dämmmaterialien und Co.), ist dennoch nicht zu negieren, dass auch alte Werkstoffe besondere Eigenschaften haben, die immer mehr in Vergessenheit geraten. Als Beispiel wäre hier ein Verputz mit Lehm zu nennen, der für ein angenehmes Raumklima sorgt.
Dank der Wiederentdeckung des alten Stils werden auch solche besondere Materialien wiederentdeckt und wertgeschätzt – was alt ist, das ist nicht unbedingt schlecht! Auch die scheinbare Neuentdeckung des traditionellen Baustils mit seiner besonderen Optik ist keineswegs als etwas Negatives zu werten, vielmehr bekommen die Innenstädte auf diese Weise wieder ein Gesicht, das beweist, dass Tradition gar nicht so alt und verkrustet ist, wie es vielmals verkauft wird.
Die Grenzen fallen: Aus alt wird neu
Die aktuelle Entwicklung in der Baukunst beweist, dass die Grenzen zunehmend fallen. Es kann nicht mehr klar unterschieden werden, ob ein Gebäude im traditionellen Stil schon Jahrhunderte überdauert hat, neu erbaut oder schlicht und ergreifend restauriert wurde.
Gerade das macht einen Gang durch die Straßen so interessant und ansprechend! Und auch in diesem Zusammenhang kann wieder eine Parallele zur Gesellschaft genannt werden: Auch hier verwischen die Grenzen zunehmend. Privatsphäre und öffentliche Sphäre gehen Hand in Hand ebenso wie es Moderne und Geschichte in der Baukunst tun.
Lernen können wir daraus einiges: Zunächst ist es sicherlich wichtig, zu erkennen, dass eine Rückbesinnung auf die Tradition nicht unbedingt eine Flucht aus dem Alltag ist. Gleichzeitig sollten wir jedoch kritisch hinterleuchten, warum die (Bau-) Kunst zunehmend altbekannte Schönheit fokussiert: Liegt es allein an ästhetischen Aspekten oder kann auch ein Rückschluss auf die Gesellschaft gezogen werden? Wie die Geschichte beweist, entstehen ästhetische Entwicklungen nie alleine um der Kunst willen – L’art pour l’art ist in diesem Falle eine populäre Ausnahme.
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